« indietro KAZIMIR MALEWITSCH UND DER FALL DES FUTURISMUS
di Magdalena Nieslony
I
Während des Besuchs von Marinetti in Rußland Anfang 1914 wurde der «Vater des Futurismus» im Zarenreich keineswegs nur mit Ehrerbietung begrüßt. Ganz im Gegenteil entwickelte sich in der Presse und in diversen Vortragssälen eine heftige Polemik über das Verhältnis des italienischen zum russischen Futurismus. Marinetti wurde dabei von seinen russischen Kollegen, die damit ihre künstlerische Eigenständigkeit zum Ausdruck bringen wollten, heftig kritisiert. Diese Auseinandersetzungen sind gut dokumentiert und stehen daher zumeist im Zentrum der Aufmerksamkeit der Forschung, wenn es um die künstlerischen Relationen zwischen den beiden Zweigen des Futurismus geht, und müssen hier nicht eigens the matisiert werden[1]. Wichtig ist es an dieser Stelle aber noch festzustellen, daß die Ereignisse von 1914 eigentlich nur frühere Abgrenzungsversuche seitens der Russen fortsetzten[2], deren Rezeption des Futurismus von Anfang an von einer eigenen Mythopoetik durchzogen war, wobei man den Italienern dabei gerne einen zu oberflächlichen Maschinen- und Geschwindigkeitskult, eine zu geringe Ablösung von der Nachahmungsästhetik und schließlich immer stärker auch die Verknöcherung des Futurismus zu einer Doktrin vorwarf[3] - Argumente, die in der Polemik 1914 in verschärfter Form eingesetzt wurden.
Die Selbstbehauptung der russischen Künstler gegenüber dem italienischen Futurismus sollte nicht ohne Folgen für die Forschung bleiben, die zum großen Teil deren Argumentation folgt, auch wenn es einigen Autoren durchaus bewußt ist, daß es zwischen den beiden Futurismen mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede gibt[4] Dieser Fokus auf die Differenzen ist durchaus berechtigt, wenn man die Orientierung der Russen an ihren nationalen Bild - und Dichtungstraditionen in Betracht zieht, in denen sie die Quelle der Erneuerung sahen und aus denen sie die Kraft zum Widerspruch gegen die unmittelbare Vergangenheit der akademischen Kunst schöpften. Eine solche paradoxe Rückwärtsgewandtheit wurde von ihnen als eine bewußte Abgrenzungsstrategie eingesetzt – so nannten sie sich selbst «budetljanie» und/oder «buduschchniki» und suchten nach den Wurzeln der eigenen Identität im Orient und nicht im Okzident. So konnte der Dichter Benedikt Livšic in seinem Vortrag mit dem Titel Wir und der Westen, den er kurz nach Marinettis Besuch in Petersburg gehalten hatte, den Italiener als einen «Präsentisten» bezeichnen, der keine neue Kunst kreieren könne, denn eine solche müsse sich an kosmischen Elementen orientieren[5]. Die ideologischen Unterschiede bekräftigte auch Marinetti, der deren Ästhetik an mehreren Stellen als Atavismus verurteilte[6], während sich die Russen an der Onomatopoetik und seiner mimetischen Vortragsweise von Zang Tumb Tumb störten[7]. Der Linguist Roman Jakobson, damals noch Student, erinnert ein Gespräch mit Marinetti, in dem dieser den Dichter Velimir Chlebnikov als einen die Gegenwart ignorierenden steinzeitlichen Poeten bezeichnete[8].
In Italien waren die Arbeiten der Russen kaum bekannt, was man aber darüber wußte, bestätigte deren Separatismus. So zeigte die einzige Abbildung eines russischen Werks in «Lacerba» eine betont «russifizierte» Variante der Venus von Urbino. Michail Larionov, der Autor des Werks, stellt seine Venus von Kazepsk nicht nur in einer vermeintlich unbeholfenen primitivistischen Manier dar, seine Bildsprache rekurriert darüber hinaus auf einen in vielen Varianten kursierenden Volksbilderbogen. Wie gut diese russische Abgrenzungsstrategie auch Ende des 20. Jahrhunderts noch funktionierte, zeigt Susan Comptons Kommentar zu Larionovs Bild in «Lacerba»: «The characteristic choice of a neo-primitive image of a nude to represent Russian Futurism in Italy illustrates the difference between these two branches of the movement»[9].
II
Schon die Vielfalt der Positionen, die sich im Rußland der 10er und 20er Jahre als futuristisch bezeichneten, macht eine solche pauschale Bestimmung der Differenz jedoch problematisch. Auch wenn das Thema der Geschwindigkeit und der Technik insgesamt eine eher marginale Rolle in der russischen Malerei der Zeit spielt, ist sie in der Anfangsphase des russischen Futurismus um 1913 in sehr prägnanten Werken vertreten, und zwar in einer stark an den Darstellungskonventionen der italienischen Futuristen orientierten Form. Schon aus diesem Grund wäre es zu kurz gegriffen, aus dem Hang der Russen zum Primitivismus deren weitgehende Unabhängigkeit von ihren italienischen Vorläufern zu folgern. Die Genese des russischen Futurismus ist ohne die Italiener nicht denkbar, und zwar nicht nur in der Erscheinungsform und Thematik der Malerei, sondern auch, und dies nachhaltig, in seiner umfassenden ästhetischen Programmatik und dem damit verbundenen Künstlerhabitus. Dies darf man nicht ignorieren, wenn man das Verhältnis der beiden Richtungen untersuchen will, ohne die nationalen Klischees zu wiederholen.
In noch größerem Maße methodisch unfruchtbar wäre es, eine künstlerische Bewegung vornehmlich in ihren eigenen Begriffen zu deuten. Die vehemente Abgrenzung der eigenen künstlerischen Auffassung von der Marinettis und dessen Künstlerkollegen gehörte, wie oben gezeigt, zum Kernprogramm der Russen. Sicherlich sind einige der von ihnen ins Spiel gebrachten Unterschiede ernst zu nehmen, zu bedenken ist aber, daß die separatistische Attitüde zumindest zum Teil dem avantgardistischen Vatermord und dem Selbstschutz vor dem Verdacht des Eklektizismus anzurechnen ist. Es ist daher verständlich, wenn als Antwort auf diese Ausgangslage so manches Stück «alten Plunders» (um im Jargon der russischen Futuristen zu bleiben) von seinem Finder als der neueste Schrei gepriesen wurde.
III
Will man also über die Rezeption des italienischen Futurismus in Rußland sprechen, so empfiehlt sich zweierlei: eine kritische Distanz zu den Aussagen der Künstler und eine exemplarische Vorgehensweise. Im Folgenden möchte ich mich dieser Vorgabe entsprechend einem Künstler widmen, dessen Name bisher nur im Titel dieses Textes gefallen ist. In der Tat meldete sich Kazimir Malewitsch nur in einem kurzen Leserbrief zum Wort, in dem er auf Michail Larionovs Ausfälle gegen Marinetti bezug nahm. Er stellte sich bezeichnenderweise gegen seinen Kollegen und schloß diesen von der Gruppe der russischen Futuristen aus[10]. Die relative Abwesenheit von Malewitsch in der Polemik und seine Parteinahme für Marinetti ist insofern auffällig, als er nur ein Jahr später zum lautstärksten Künstler der russischen Avantgarde avancieren und sich selbst vom Futurismus streng abgrenzen sollte. Diese Ambivalenz zeigt auch die Nr. 22 aus einer Serie analytischer Tafeln, die Malewitsch zur Visualisierung seiner Theorie der Historischen Entwicklung neuer Malerei seit dem Impressionismus mehr als 12 Jahre nach Marinettis Besuch in Rußland hergestellt hatte (Abb. 1)[11]. Die Tafel 22 bildet den Schluß der Serie und zeigt in einem Diagramm die Übersicht über die Strömungen in der Malerei seit 1880. Das Gewirr der Linien und das komplexe System der kleinen Kreise mit Ziffern und Buchstaben tragen allerdings kaum zur Verständlichkeit des Malewitschschen Kunstsystems bei. Die Darstellung erinnert zunächst an ein Verlaufsdiagramm, wie das einiger Börsenkurse, bei dem wir auf der Horizontalen die Zeitlinie haben und auf der Vertikalen die Wertentwicklung der einzelnen Wertpapiere. Andererseits zeigt sie aber auch Eigenschaften eines Strukturdiagramms oder eines synchronen Plans, beispielsweise des einer Metro, bei dem sich die Linien an rund bezeichneten Stationen kreuzen. Was Malewitschs Darstellung im Unterschied zu den angeführten Beispielen jedoch fehlt, ist eine Legende, die dem Betrachter eine eindeutige Entzifferung des Systems erst ermöglichen würde. So bleibt die Konstruktion bis dato voller unbeantworteter Fragen und merkwürdiger Ungereimtheiten. Eine relativ einfache Lösung findet sich freilich für die zunächst stutzig machende Doppelung der Zeitangabe, horizontal in Jahreszahlen und vertikal in Stilen. Sie erklärt sich, wenn man die «Stil-Linie» als Wertmaßstab begreift, an dem der Grad der Loslösung von der Mimesis und die Steigerung der Malerei hin zur Gegenstandslosigkeit gemessen wird. Malewitschs eigene Erfindung, der Suprematismus, steht, wie nicht anders zu vermuten, an der Spitze der Skala. Für unser Thema besonders interessant ist, daß er direkt auf den Futurismus folgt, dem somit ein sehr hoher Wert beigemessen wird. Die Entwicklungslinie des Futurismus sticht durch ihre Klarheit aus dem Durcheinander besonders hervor: Sie steigt am steilsten und ohne Unterbrechung von 1880 bis 1908, bleibt bis 1913 auf gleicher Höhe, wo sie an einem Knotenpunkt an die grüne Linie des Suprematismus stößt und damit ein plötzliches Ende in einer Sackgasse findet. Eine Abzweigung der Linie schnellt seit 1910 in einem rasanten Tempo und ebenfalls ohne Unterbrechung bis 1922 in die Tiefe, auf die vorkünstlerische Stufe der darstellenden Malerei.
Diese Inszenierung des Scheiterns und des Falls des Futurismus entbehrt nicht einer gewissen Dramatik, auch wenn ihm Malewitsch dann 1926 eine kleine Renaissance erlaubt. Der Futurismus steigt wie ein Komet und verglüht wie ein solcher, er klettert nicht wie der Kubismus und der Suprematismus mühevoll Stufe um Stufe die Evolutionsleiter hinauf, er kriecht nicht endlos auf der gleichen mittelmäßigen Ebene ohne jegliche Chance auf eine Weiterentwicklung, wie der Kubismus und sein Derivatnach 1913. Er ist eine absolute Ausnahmeerscheinung, nicht zuletzt, weil er schon 1908 auf einer Höhe angelangt ist, die dem Kubismus ganz versagt blieb und die der Suprematismus erst 1913 erreichte. Die Tafel 22 zeigt also, daß Malewitsch die Stellung des Futurismus im System neuer Malerei sehr ambivalent beurteilt. Einerseits wird dem Futurismus eine Vorreiterrolle in der Entwicklung der gegenstandslosen Malerei eingeräumt und die Lösung vom Gegenstand als die dem Suprematismus am nächsten kommende eingeschätzt, andererseits wird die Richtung durch ihre visuelle Isolierung als konsequenzlos für den Suprematismus charakterisiert und durch ihr abruptes Ende bzw. den Fall in den Naturalismus nach 1913 diskreditiert.
IV.
Zunächst nur soviel zum Diagramm, das uns später noch beschäftigen wird. Wie beschreibt aber Malewitsch die Rolle des Futurismus in der zu der Tafel 22 gehörenden Theorie des additionalen Elements? Die Theorie bietet nicht nur eine Darstellung sondern vor allem die Erklärung der Entwicklung moderner Malerei, wobei sie im Unterschied zu formalistischen Stilgeschichten der Jahrhundertwende den Gang der Kunst an die gesellschaftlichen Milieus ihrer Schöpfer bindet. Kurz zusammengefaßt, wird der Fortschritt der Kunst hier aus dem Fortschritt der Gesellschaft erklärt, wobei die Mittlerrolle zwischen den beiden Bereichen die von Malewitsch so genannten «additionalen Elemente» übernehmen, die aus der Umgebung in den Geist der Maler eindringen und dessen Wahrnehmung beeinflussen[12].
Seit 1919 ließ Malewitsch den Pinsel ruhen und beschäftigte sich ausschließlich mit der Ausarbeitung seiner Kunsttheorie[13]. Am Staatlichen Institut für Künstlerische Kultur in Leningrad (GINChUK) leitete er die Abteilung für Malkultur, wo er sich der systematischen Erforschung der Entwicklungsgesetze moderner Malerei widmete und seine Theorie des additionalen Elementes formulierte, die 1927 anläßlich einer Ausstellung Malewitschs in Berlin in der Reihe der Bauhausbücher unter dem Titel Die gegenstandslose Welt veröffentlicht wurde. Als Malewitsch nach Berlin aufbrach, war er in der Sowjetunion bereits mit großen Schwierigkeiten konfrontiert – das GINChUK wurde Ende 1926 aufgelöst und Malewitsch dadurch beruflich perspektivlos geworden[14]. Die Reise bot ihm die Möglichkeit, seine suprematistische Kunst im Westen bekannt zu machen, wobei er insgeheim auf eine Anstellung am Bauhaus spekulierte. Diesen letztlich enttäuschten Hoffnungen verdanken wir sowohl die didaktischen Tafeln, die Malewitschs Kunsttheorie und seine darauf basierenden Lehrmethoden zeigen und zu der die Tafel Nr. 22 gehört, als auch das Bauhausbuch.
Das Buch umfaßt zwei Teile – der erste widmet sich der Einführung in die Theorie des additionalen Elements, der zweite erläutert den Suprematismus. Im ersten Teil folgt Malewitsch dem in der frühen Sowjetunion auch für die Geisteswissenschaften bevorzugten Modell naturwissenschaftlicher Objektivität und der marxistischen Widerspiegelungstheorie. In seinem Text spricht er aber weniger über die einzelnen Stile als über den von ihm angenommenen allgemeinen Mechanismus der Übertragung der additiona Elemente aus der Umgebung in die Malerei und über die Konsequenzen dieser Entdeckung für den Malunterricht, als dessen höchstes Ziel er die Herausbildung reiner Stile und Verhinderung von Eklektizismen definiert. Auf den Futurismus kommt er nur selten, vor allem gegen Ende der Einführung in die Theorie des additionalen Elements zu sprechen: «Erst im Kubismus und Futurismus nimmt die Kunst der industriellen Umgebung ihren Anfang, d. h. da, wo die [darstellende – M.N.] Malerei aufhört. Übrigens sind diese beiden Kulturen (Kubismus und Futurismus) in ihrer Ideologie verschieden. Während der Kubismus im ersten Stadium seiner Entwickelung noch an der Grenze Cézannescher Kultur steht, verallgemeinert der Futurismus alle Erscheinungen bereits zugunsten der abstrakten Kunst und grenzt somit an eine neue Kultur – den gegenstandslosen Suprematismus»[15]. Und kurz später ergänzt er: «Der Futurismus soll aber keineswegs die Maschine porträtieren, er soll neue abstrakte Formen schaffen. Die Maschine ist gewissermaßen die ‚äußere’ Form der zweckmäßigen Bewegung, die durch eine Multiplikation mit der gestaltenden Energie des Futuristen neue Formen und Form-Formeln erzeugt»[16]. Diese spärlichen Textstellen fügen kaum etwas zum visuellen Befund der Tafel 22 hinzu.
V
Auch die übrigen analytischen Tafeln zur Theorie des additionalen Elements lassen nur wenig Licht auf den Futurismus fallen. Die Veränderungen moderner Malerei werden nach Malewitsch buchstäblich durch die Ergänzungselemente verursacht, denen er die Rolle der «differentia specifica», des Wesensmerkmals eines Stils zuspricht. Die Ergänzungselemente lassen sich aus dem empirischen Material extrahieren und meistens in einem visuellen Zeichen zusammenfassen. Nur die additionalen Elemente des Impressionismus – das Licht – und des Futurismus – die Bewegung – sind mit einer graphischen Formel nicht darstellbar. Da für den Futurismus als einzigem Stil keine Farbskala definiert wird, bleibt diese Richtung merkwürdig unterbestimmt[17]. In der Tat befassen sich fast alle analytischen Tafeln mit dem Kubismus, der nicht nur als Ganzes charakterisiert, sondern darüber hinaus in verschiedene Stadien unterteilt wird.
Auf dem Entwicklungsdiagramm der Tafel 22 werden die verschiedenen Stadien des Kubismus auf der linken vertikalen Werteskala getrennt aufgeführt. Trotz der höheren Stellung des Futurismus auf der Evolutionsleiter der Malerei konzentriert sich Malewitsch in seiner analytischen Arbeit am Ginchuk also eindeutig auf den Kubismus und macht diesen anschaulich zum eigentlichen historischen Bindeglied zwischen Cézanne und dem Suprematismus. Das Entwicklungsdiagramm behauptet eindeutig die Genese des Suprematismus aus dem Kubismus: Die grüne Linie des Suprematismus läuft 4 Jahre lang, von 1910 bis 1913, parallel zur roten des Kubismus und vollzieht die gleichen Entwicklungsstufen vom kubistischen «Geometrismus» bis zum dritten Stadium des Kubismus. 1913 trennen sich die Wege der beiden Richtungen und der Suprematismus hebt sich selbst noch im selben Jahr auf die letzte gegenstandslose Stufe der Malerei. Er überspringt dabei das 4. und 5. Stadium des Kubismus und streift lediglich den Futurismus. In dieser Darstellung wird die Rolle des Futurismus für die Entstehung des Suprematismus wenn nicht völlig negiert, so doch marginalisiert. Wir begegnen also auch hier der anfangs ausgeführten Abgrenzungsstrategie der russischen Futuristen von ihren italienischen Vettern.
VI.
Die Theorie des additionalen Elements und die dazu gehörenden analytischen Tafeln bilden das Ergebnis einer jahrelangen Arbeit an der Begründung und Rechtfertigung des Suprematismus, der bereits 1915 auf der „Letzten Futuristischen Gemäldeausstellung 0,10“ in St. Petersburg zum ersten mal gezeigt wurde. Dabei bildete die theoretische Abgrenzung vom Futurismus von Anfang an das Leitmotiv der Aussagen Malewitschs. So ist bereits der Titel der Schau, an dessen Findung der Künstler beteiligt wurde, programmatisch: Hier soll das futuristische Kapitel der Geschichte geschlossen und zugleich ein neues geöffnet werden. Malewitsch nutzt die Gruppenausstellung dazu, den Suprematismus – nicht immer im Einvernehmen mit seinen mitausstellenden Künstlerkollegen – als den Nachfolger des Futurismus an der Spitze der Kunstentwicklung einzusetzen[18]. Die angestrebte historische Dimension der Veranstaltung wird in einer Broschüre mit dem Titel Vom Kubismus zum Suprematismus. Neuer malerischer Realismus zum Ausdruck gebracht, mit der er die Epiphanie seines Ismus begleitete. Der Text wurde 1916 in einer deutlich erweiterten Fassung unter dem Titel Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus. Neuer malerischer Realismus erneut publiziert. Schon diese ersten Texte zeichnen das Entwicklungsschema, das in der Tafel Nr. 22 etwa 10 Jahre später ausgearbeitet wurde. In der ersten Fassung der Broschüre formuliert Malewitsch zudem den zentralen und bis zum Schluß für ihn gültigen Kritikpunkt am Futurismus: «Doch das Streben des Futurismus, die reine malerische Plastik als solche hervorzubringen, blieb erfolglos: Er konnte sich von der Gegenständlichkeit insgesamt nicht lösen und zerstörte die Objekte nur, um Dynamik zu erzeugen. […] [D]as Ziel des Futurismus, die reine malerische Plastik zu erreichen, ist noch in weiter Ferne, denn die Konstruktion der vorübereilenden Dinge im Bild will den Eindruck vom Zustand der bewegten Natur wiedergeben. Bei solcher Aufgabenstellung kann man es nicht vermeiden, mit realen Formen zu arbeiten, um diesen Eindruck hervorzurufen»[19].
Den Unterschied seines Suprematismus zum Futurismus zeigt Malewitsch auf der Letzten futuristischen Gemäldeausstellung 0,10, wenn er eins seiner Bilder analog zu einem Werk Boccionis betitelt: Malerischer Realismus eines Fußballspielers (Abb. 2). Malerischer Realismus meint hier einen völligen Verzicht auf Mimesis der Formen der Außenwelt; es ist sozusagen nicht die «natura naturata», der der Künstler nacheifert, sondern die bewegte «natura naturans». Das Motiv der unsichtbaren Kräfte des Kosmos wird im Laufe seiner Karriere immer prominenter und verdrängt bis zu einem gewissen Grad die reine Malerei. Im zweiten Teil von Die gegenstandslose Welt modifiziert Malewitsch die Zielsetzung des Suprematismus entsprechend, indem er diesen jetzt nicht mehr als die «Herrschaft» der reinen Malerei über die «zweckhaften Formen» der Welt definiert[20], sondern als «die Suprematie der reinen Empfindung in der bildenden Kunst»[21]. Die Illustrationen des Bauhausbuchs geben uns einige Möglichkeiten vor, wie Malewitsch die Empfindung als Thema der Malerei mit Inhalt füllen wollte: «Flug», «metallische Laute – dynamisch», «Strom», «Telegraphie», «magnetische Anziehung», «Bewegung und Widerstand» (Abb. 3) und anderes mehr[22].
Die Gemeinsamkeiten dieser Motive mit solchen der Futuristen sind offensichtlich und nicht nur aus der heutigen Perspektive wahrnehmbar. Sie wurden schon von Malewitschs Zeitgenossen bemerkt, so beispielsweise von dem Maler und Organisator der 0,10-Ausstellung Ivan Puni, der in einem später publizierten Vortrag von 1922 scharf den Illusionismus von Malewitschs Malerei kritisiert (Abb. 4): «Malewitsch betrachtet das Bild nicht als eine Komposition, er steht einerseits dem italienischen Futurismus, andererseits einem konventionellen Akademismus nahe. Ihn interessiert die Bewegung, nach rechts, nach links, rechts, links, und er ist bereit, kompositorisch ganz überflüssige Details in die Komposition hineinzuzwingen, um den Eindruck von Bewegung zu erzielen. Betrachten wir diese Stäbchen, die Figuren 3 bis 10. Sind sie jemals auf einem Rennen gewesen? Wenn ja, dann haben Sie sicher oben von der Tribüne gesehen, wie die Traube der Reiter in ihren Sulkys angefahren kommt und der Favorit sich unter dem lärmenden Jubel des Publikums aus dem zu lösen beginnt, was man den ‚Korb’ nennt, um die Konkurrenten zu überholen – ganz genau so überholt auch dieses Stäbchen seine Nachbarn. Man bräuchte ihm nur Räder unterzumontieren – soll es fahren, im Bild wird es nicht gebraucht»[23].
VII
Ich komme nun zur Konklusion. Wie paßt die von Puni so bildhaft vorgeführte Verwandtschaft des Suprematismus mit dem Futurismus zu Malewitschs Marginalisie des Beitrags der italienischen Avantgarde zu seiner eigenen Kunst? Meine Vermutung ist, daß gerade diese Ähnlichkeit, das gemeinsame Interesse an der universellen Dynamik, den Russen zu einer verschärften Abgrenzung bewegte. Die Genese des Suprematismus ist in Wirklichkeit stark von der Rezeption des Futurismus bestimmt gewesen. Malewitsch verdankt dem Futurismus nicht nur die Vorliebe für hymnisch gehaltene Manifeste und für provokante Auftritte sowie den Willen, mit seiner Kunst das Leben selbst zu verändern. Auch die Hauptthemen seiner seit 1915 entstandenen suprematistischen Malerei, Energie und Dynamik, entstammen der futuristischen Ästhetik. Gestärkt wird meine Sicht dadurch, daß der Künstler in seiner Entwicklungsgeschichte des Suprematismus nicht nur dieses eine Mal die historischen Tatsachen verschleierte. Vielsagend in dieser Hinsicht sind vor allem drei Aspekte seiner Geschichtskonstruktion: Erstens verlegte er den Beginn des Suprematismus von 1915 auf 1913. Zweitens päppelte er Anfang der 30er Jahre die kaum vorhandene impressionistische Phase seines Werdegangs mit einem Schuß frischer Bilder auf, die er allesamt in die 10er Jahre vordatierte[24]. Drittens verschwieg er in der Entwicklungsgeschichte des Suprematismus den Symbolismus, der eine wesentliche Station in dessen Entwicklung und damit eine bedeutende ideelle Wurzeln bildete. Diese Tatsache macht deutlich, daß Malewitsch gerade diejenigen Anregungen seiner Kunst in der nachträglichen Darstellung negierte, welche die ideelle Seite des Suprematismus vorwegnahmen.
NOTE
[1] In italienischer Sprache erschien das äußerst genau recherchierte Buch von Vladimir Pavlovic Lapšin, Marinetti e la Russia. Dalla storia delle relazioni letterarie e artistiche negli anni dieci del XX secolo, trad. di Michela Trainini, Milano, Skira 2008. Zu diesem Thema ebenfalls auf italienisch vgl. Aleksandr Parnis, «Marinetti in Russia. Storia di una polemica», in: I Russi e l’Italia. A cura di Vittorio Strada, Milano, Scheiwiller 1995, S. 235-45. Dieser Text erschien in überarbeiteten Versionen noch zweimal, vgl. ders., «K istorii odnoj polemiki: F. T. Marinetti i russkie futuristy», in: Ausst.-Kat. Futurizm – radikal’naja revoljucija. Italija – Rossija. K 100-letiju chudožestvennogo dviženija, Moskau (Puschkin Museum) 2008, S. 177-85; ders., «À propos d’une polémique: F. T. Marinetti et les futuristes russes», in: «Ligeia. Dossiers sur l’art», Bd. XXII, H. 89-92 (Januar-Juni 2009), S. 15-32. Vgl. auch Jean-Pierre Andréoli de Villers, «Marinetti et les futuristes russes lors deson voyage à Moscou en 1914», in: «Ligeia. Dossiers sur l’art», Bd. XIX, H. 69-72 (Juli-Dezember 2006), S. 129-45. Eine umfassende Darstellung der Rezeption des Futurismus in Rußland bietet die Anthologie von Cesare G. De Michelis, Il futurismo italiano in Russia 1909-1929, Bari, De Donato 1973. [2] Ein Beispiel für solche eigentlich vom Beginn des russischen Futurismus an angestrebte Abgrenzung bietet die Deklaration Strahlenkünstler und Zukünftler der Gruppe um den Maler Michail Larionov von 1913. Vgl. dazu Ekatarina Bobrinskaja, «Russkij futurizm», in: Ausst.-Kat. Futurizm – radikal’naja revoljucija. Italija – Rossija. K 100-letiju chudožestvennogo dviženija, Moskau (Puschkin Museum) 2008, S. 144-57, hier S. 145. [3] Bobrinskaja (wie Anm. 2), S. 145 f., Parnis 2008 (wie Anm. 1), S. 180. [4] Diese Behauptung steht in den meisten Texten, der sich mit den Unterschieden der beiden nationalen Ausprägungen des Futurismus befassen, so bei Parnis 2008 (wie Anm. 1), S. 178 oder Andréoli de Villers (wie Anm. 1), S. 131. Der russischen Rezeption des Futurismus und dessen Adaptation in der Malerei widmet sich hingegen Jean-Claude Marcadé, «Il cubofuturismo russo», in: Ausst.-Kat. Futurismo. Avanguardiavanguardie, Parigi (Centre Georges Pompidou) 2009, S. 58-65. [5] Parnis 2008 (wie Anm. 1), S. 183. [6] Ebd., S. 178. [7] So Bendikt Livšic in seinen Erinnerungen an den Besuch Marinettis in St. Petersburg, vgl. Andréoli de Villers (wie Anm. 1), S. 140. [8] So Bendikt Livšic in seinen Erinnerungen an den Besuch Marinettis in St. Petersburg, vgl. Andréoli de Villers (wie Anm. 1), S. 140. [9] Susan P. Compton, «Italian Futurism and Russia», in: «Art Journal», Bd. 41, H. 4 (Winter 1981), S. 343-48, hier S. 343. [10] K[azimir]. Malevic, «Otmeževavšiesja ot Larionova», in: «Nov’», Nr. 12, 1914; wieder abgedruckt in: ders., Sobranie socinenij pjati tomach, Bd. 1, Moskau, Gileja 1995, S. 25. [11] 17 von den 22 Tafeln befinden sich heute im Stedelijk Museum in Amsterdam, das sie zusammen mit den von Malewitsch in Berlin zurückgelassenen Bildern 1958 erworben hat. Die fünf übrigen Tafeln der Serie besitzt das Museum of Modern Art in New York. Die umfangreichste Untersuchung der Tafeln bietet Linda S. Boersma, «On Art, Art Analysis and Education: The Theoretical Charts of Kazimir Malevich», in: Ausst.-Kat. Kazimir Malevich 1878-1935, Leningrad (Russian Museum), Moscow (Tretrjakov Gallery), Amsterdam (Stedelijk Museum) 1988-1989, S. 206-23. Abbildungen der Tafeln mit Übersetzungen der Beschriftung ins Englische sind zu finden in: Troels Andersen, Kasimir Malevich. Catalogue raisonné of the Berlin exhibition 1927, including the collection in the Stedelijk Museum Amsterdam; with a general introduction to his work, Amsterdam, Stedelijk Museum 1970, S. 115-33. [12] Zur Theorie des additionalen Elements findet sich Grundlegendes bei E. Kovtun, «Malevic o teorii pribavocnogo elementa», in: «Dekorativnoe iskusstvo SSSR», H. 11 (1988), S. 33-36. [13] Zur Kunsttheorie von Malewitsch vgl. Aage A. HansenLöve, «Vorwort. Vom Pinsel zur Feder und zurück. Malevics suprematistische Schriften», in: Kazimir Malevic, Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik, hg. v. A. A. HansenLöve, München Wien, Hanser 2004, S. 7-40. [14] Zur Geschichte von Ginchuk vgl. Irina Karassik, «Das Institut für Künstlerische Kultur (GINCHUK)», in: Ausst.-Kat. Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, Karlsruhe (Zentrum für Kunst und Medientechnologie und Badischer Kunstverein) 1991, S. 40-58; dies. [Karasik], «„Our contemporary form in art is the Research Institute…“», in: Ausst.-Kat. In Malevich’s Circle. Confederates, Students, Followers in Russia 1920s-1950s, St. Petersburg (State Russian Museum) 2000, S. 103-15. [15] Kasimir Malewitsch, Die gegenstandslose Welt, Nachdruck der Ausgabe von 1927 [Neue Bauhausbücher, hg. v. Hans M. Wingler] Mainz und Berlin, Kupferberg 1980, S. 58-59. [16] Ebd., S. 61. [17] Vgl. Tafel Nr. 4, in: Andersen (wie Anm. 11), S. 118. [18] Geradezu berüchtigt ist die Konkurrenz zwischen Vladimir Tatlin und Malewitsch. Tatlin hatte schon 1914 seine ersten Konterreliefs ausgestellt und damit zunächst die Führungsrolle der Avantgarde übernommen. Auf der 0,10-Ausstellung präsentierte er die Weiterentwicklung dieser Werkgruppe zu Eck-Konterreliefs. Vgl. Andréi Nakov, Kazimir Malewicz: le peintre absolu, Bd. 2, Paris, Thalia Edition 2006, S. 126 f. [19] Kasimir Malevic,«Vom Kubismus zum Suprematismus in der Kunst, zum neuen Realismus in der Malerei, als der absoluten Schöpfung», in: Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, hg. v. Boris Groys und Aage A. Hansen-Löve, Frankfurt/Main, Suhrkamp 2005, S. 188-99, hier S. 189. [20] Ebd.: «Der Dynamismus der Malerei ist nur eine Rebellion, um die malerischen Massen aus den Gegenständen zu befreien, d.h. zur Herrschaft rein selbstzweckhafter malerischer Formen über die verstandesmäßigen, also zum Suprematismus als dem neuen malerischen Realismus.» [21][21] Malewitsch 1927 (wie Anm. 15), S. 65. [22] Vgl. die Abbildungen ebd., S. 79-97. [23] Iwan Puni, «Moderne Malerei», in Iwan Puni. Synthetischer Musiker, hg. v. Berlinische Galerie, Museumspädagogischer Dienst Berlin, Berlin 1992, S. 105-40, hier S. 119. [24] Zu dieser späten Serie der impressionistischen Bilder siehe Nakov (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 54-60. ¬ top of page |
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